Zum Hauptinhalt springen

Bundessozialgericht: Kein Vergaberecht im eingliederungshilferechtlichen Dreiecksverhältnis

Mit Urteil vom 17. Mai 2023, zum Aktenzeichen B 8 SO 12/22 R hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden. Die Vergabe von Leistungen der Integrationshilfe in Schulen für Kinder mit Behinderung (Schulbegleitung) ist rechtswidrig.

Die Leistungen der Schulbegleitung sind im eingliederungshilferechtlichen Dreiecksverhältnis nach §§ 75 ff SGB XII alte Fassung (aF) bzw nach §§ 123 ff SGB IX neue Fassung (nF) zu erbringen, so das BSG. Dabei handelt es sich um ein einfaches Zulassungssystem, in dem alle geeignete Anbieter zur Leistungserbringung zuzulassen sind, wenn sie die im Vorhinein festgelegten Kriterien erfüllen. Zu einer Auswahlentscheidung des Leistungsträgers zugunsten einzelner Markteilnehmer aufgrund wertender Kriterien (die eine Rangfolge der Leistungserbringer zulassen) kommt es nicht. Da eine solche Auswahlentscheidung wesentlicher Bestandteil jeden Vergabeverfahrens ist, muss nach Europarecht kein Vergaberecht angewendet werden. Gleichzeitig widerspricht das Vergabeverfahren dem nationalen Versorgungssystem. Es verletzt die in den §§ 75 ff SGB XII aF bzw §§ 123 ff SGB IX nF niedergelegten Grundsätze der Subsidiarität, des Wunsch- und Wahlrechts und der Trägerpluralität, indem der im Vergabeverfahren obsiegende Bieter ein bestimmtes Kontingent an Leistungen zugewiesen wird. Das verletzt die übrigen Mitbewerbern in ihrem subjektiven Recht auf chancengleiche Teilnahme an der Leistungserbringung. Besondere Umstände, die ausnahmsweise eine andere Handhabung rechtfertigen könnten, gab es im Streitfall nicht.

Das Urteil des BSG ist zu begrüßen, entspricht es doch der Rechtsauffassung, die die Freie Wohlfahrtspflege seit Jahren vertritt. Auch wenn es im konkreten Fall um die Leistungen der Schulbegleitung ging, dürfte das Urteil nach hier vertretener Auffassung Auswirkungen darüber hinaus entfalten.

Zum einen gilt es nach hiesiger Lesart für alle Leistungen der Eingliederungshilfe, auf die die Leistungsberechtigten einen subjektiven Anspruch haben und die nach §§ 75 ff SGB XII aF bzw §§ 123 ff SGB IX nF zu erbringen sind.

Zum anderen dürfte die Entscheidung auch auf soziale Leistungen anwendbar sein, in denen sich der deutsche Gesetzgeber für eine nahezu identische Konzeption wie in §§ 75 ff SGB XII aF und §§ 123 ff SGB IX nF im Sinne eines einfachen Zulassungssystems entschieden hat. Da auch hier keine Auswahlentscheidung zwischen mehreren Leistungserbringern anhand von wertenden Kriterien getroffen wird, muss Vergaberecht nach Europarecht nicht angewendet werden. Sind nach der Konzeption mit jedem geeigneten Leistungserbringer, der die vorab festgelegten Kriterien der Eignung, Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit erfüllt, ein Vertrag über die Leistungserbringung zu schließen, so wird dieses Versorgungskonzept nach den vom BSG aufgestellten Grundsätzen auch hier durch die Durchführung eines Vergabeverfahrens unterlaufen.

Das dürfte nach hiesigem Kenntnisstand der Fall sein bei:

- Leistungen der Sozialhilfe, bei denen sich die Leistungserbringung nach §§ 75 ff SGB XII nF richtet;

- Jugendhilfeleistungen, bei denen sich die Leistungserbringung nach §§ 78a ff SGB VIII richtet;

- Pflegeleistungen, bei denen sich die Leistungserbringung nach dem Siebten und Achten Kapitel des SGB XI richtet.

Das o. g. Urteil des BSG ist in der Anlage beigefügt. Eine detaillierte Zusammenfassung und Bewertung können Mitglieder des Paritätischen über den Gesamtverband oder ihren Landesverband beziehen.