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Paritätisches Positionspapier: Digitalisierung fördern, Zivilgesellschaft stärken, digitale Teilhabe für alle ermöglichen

Als Paritätischer Wohlfahrtsverband nehmen wir unsere Verantwortung wahr, den gesellschaftlichen Megatrend Digitalisierung mit dem Ziel umfassender sozialer und digitaler Teilhabe mitzugestalten. Als Teil und Akteur einer lebendigen Zivilgesellschaft stehen wir für gesellschaftlichen Zusammenhalt, Solidarität und eine Gesellschaft, die alle mitnimmt und keinen zurücklässt. Diese Werte gilt es auch im digitalen Raum zu bewahren und mit allen verfügbaren Mitteln zu stärken.

Allein der Paritätische Wohlfahrtsverband umfasst mehr als 10.500 gemeinnützige Organisationen, Initiativen und Vereine mit hunderttausenden haupt- und ehrenamtlichen Menschen und Millionen Klient*innen. Praktisch alle Bürger*innen nehmen im Laufe ihres Lebens die zahlreichen Angebote der Wohlfahrtspflege in Anspruch. Die Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen und deren soziale Teilhabe zu erhalten oder herbeizuführen, ist unsere zentrale Mission. Doch um soziale Teilhabe zu erhalten, muss auch digitale Teilhabe geschaffen oder um Alternativen ergänzt werden. 

Mit der intensivierten Digitalisierung des öffentlichen Lebens, politisch gefördert wie auch pandemisch erzwungen, vertieft sich stattdessen derzeit die soziale Kluft massiv entlang den individuell verfügbaren Optionen digitaler Teilhabe. Soziale Träger sind sehr gefordert, einerseits der digitalen Benachteiligung zahlreicher Bevölkerungsgruppen (etwa Menschen, die von Armut betroffen sind; Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten; Menschen, die durch digitale Barrieren ausgegrenzt werden u.v.m.) aktiv entgegenzuwirken. Gleichzeitig stellt die digitale Transformation der Freien Wohlfahrtspflege selbst einen Kraftakt dar.

Diesen Herausforderungen steht eine Förderpraxis gegenüber, die sich bislang auf die Unterstützung vor allem gewerblich arbeitender Unternehmen konzentriert und entsprechende Initiativen bei gemeinnützigen sozialen Trägern vielfach außen vor gelassen hat. Umso dringlicher erscheint es, dass die Wohlfahrtspflege bei der Entwicklung zukünftiger Förderprogramme besonders berücksichtigt und eingebunden wird. Dabei ist nicht nur die Förderung der digitalen Transformation der Organisationen selbst in den Blick zu nehmen, sondern auch die Förderung und angemessene Refinanzierung von digitalen Angeboten sozialer Träger.

Digitale Teilhabe gehört inzwischen zur Daseinsvorsorge. Der digitale Raum bietet zudem die große Chance, Menschen zu empowern. Bei zahlreichen Digitalisierungsvorhaben, darunter das Onlinezugangsgesetz oder die elektronische Patient*innenakte, sehen wir noch großen Entwicklungsbedarf, etwa hinsichtlich der Usability, Barrierefreiheit oder nicht-elektronischer Alternativangebote. 

 

Paritätische Eckpunkte zur digitalen Teilhabe für alle

1. Teilhabe am digitalen Leben bedeutet ganz grundlegend: gleicher und flächendeckender Zugang für alle zum Medium Internet. Digitaltechniken müssen von allen genutzt werden können. Dazu braucht es flächendeckende und niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten, etwa durch die allgemeine Versorgung mit digitaler Hardware und den Ausbau von Infrastrukturen wie etwa Breitband und Mobilfunk. Zur barrierefreien digitalen Teilhabe gehört auch die Sicherung und bei Bedarf Finanzierung von technisch notwendiger Assistenz. Weiterhin muss das nutzer*innenzentrierte,  barrierefreie Design insbesondere von digitalen Anwendungen im öffentlichen Raum realisiert werden, und zwar im alle Entwicklungsphasen umfassenden obligatorischen Dialog mit Anwender*innen. Soweit in diesen Fragen bereits gesetzliche Bestimmungen wie beispielsweise das Behindertengleichstellungsgesetz oder Barrierefreiheitsstärkungsgesetz vorliegen, müssen diese zuverlässig umgesetzt und bei Verstößen sanktioniert werden.

2. Digitale Teilhabemöglichkeiten müssen vertieft und realisiert werden. Digitale Medien und Kommunikations-Netzwerke bieten große Chancen,sich neue Sozialräume zu erschließen und gesellschaftliche Beteiligung zu stärken. Durch die Realisierung von Maßnahmen zur Barrierefreiheit und die Unterstützung von Engagement und Selbstorganisation können solche Angebote inklusiv und integrierend wirken. Die neuen Formen der Teilhabe, Arbeitsweisen und -modelle und zivilgesellschaftliche Partizipationsansprüche in demokratischen Prozessen erfordern auch Innovationen der Kollaboration mittels geeigneter und kostenreduzierter Soft- und Hardware mit barriere- und diskriminierungsfreien Zugängen. Um einen diskriminierungsfreien Zugang und das Recht auf freie Auswahl zu gewährleisten, müssen gleichberechtigte Möglichkeiten zur analogen Teilhabe angeboten und digitale Angebote, wo nötig, mit analogen Angeboten der Sozialen Arbeit reibungslos verknüpft werden.

3. Soziale Träger sind Multiplikatoren, gerade auch bezüglich digitaler Teilhabe, und schon jetzt aktiv damit befasst, viele digitale Hürden abzubauen. Um diese Aufgabe noch besser wahrnehmen zu können, braucht es mehr und intensivere Bildungsangebote zu Digitalisierungswissen: Einerseits im öffentlichen Bildungssektor, um die gesamte Bevölkerung beim digitalen Wandel mitzunehmen, ganz besonders aber als Teil der Aus-, Fort und Weiterbildung im Sozial- und Gesundheitswesen, um mehr digitale Kompetenzen direkt bei den Fachkräften zu verankern. Curricula und Lehrgänge müssen ergänzt werden um attraktive Angebote zur Erweiterung von Anwendungs- und Medienkompetenzen und zur kritischen Aufklärung über profitorientierte Anbieterstrukturen im digitalen Raum. Soziale Träger bieten sich dabei für eine Zusammenarbeit mit Bildungsträgern an, wenn es darum geht, mehr passgenaue Bildungsangebote zur digitalen Teilhabe für unterschiedliche Zielgruppen und insbesondere Klient*innen zu entwickeln.

4. Zur digitalen Teilhabe gehört auch, sich im Netz wohlzufühlen und ohne persönliche Nachteile die eigene Meinung vertreten zu können. Digitale Formate sollen darauf angelegt sein, konstruktive Kommunikation zu fördern. Dazu braucht es Bildungsangebote zur Aufklärung, Strategien und diskriminierungsfreie, auch technisch unterstützte Lösungen, die der Fragmentierung und Polarisierung in öffentlichen Foren entgegenwirken. Es braucht einfache, wirksame, breit etablierte Mechanismen, sich gegen Online-Diskriminierung und Hassbotschaften sowie gegen das Verbreiten von Falschinformationen zur Wehr setzen zu können. Es braucht Aufklärung und technische Lösungen, die der Verbreitung von toxischen Inhalten entgegenwirken und wirklichkeitsverzerrende Trichtereffekte in sozialen Medien vermeiden helfen und eine Stärkung der allgemeinen Medienkompetenz, Information eigenständig kritisch zu hinterfragen und überprüfen zu können. Es braucht die Förderung von Institutionen, die aktive Aufklärung zu Fake News leisten sowie die Unterstützung von Initiativen und guten Vorbildern, die für gewaltfreie Diskussionskultur und demokratische Umgangsformen in analogen wie auch digitalen Medien einstehen.

5. Der Zugang zu relevanten und geprüften Informationen ist eine entscheidende Voraussetzung für die Teilhabe am öffentlichen Diskurs. Daher muss das öffentlich angebotene, für alle zugängliche Informationsangebot im Netz aktiv gefördert werden. Bereits jetzt findet sich online ein enormes Reservoir an leicht erreichbarem Wissen und (politischen) Bildungsangeboten. Diese gilt es hinsichtlich Qualität, Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Bekanntheit zu fördern. Weiterhin braucht es mehr und leichteren Zugang zu Statistiken und Informationen des öffentlichen Sektors, auf deren Basis bessere Einsichten in gesellschaftliche Entwicklungen gewonnen und neue digitale Dienstleistungen für das Gemeinwohl geschaffen werden können. 

6. Aus persönlichen Daten können Profile entstehen, die Aktivitäten und Haltungen von Menschen absehbar und manipulierbar machen. Dies gilt keineswegs nur für besonders sensible und bereits gesetzlich geschützte Daten wie z. B. Gesundheitsdaten, sondern auch für alle anderen Daten, die bei Nutzung des Internets gespeichert werden. Wir brauchen Datensouveränitäts-Kontrolle und diskriminierungsfreien Einsatz von Algorithmen. Darum sollen digitale Angebote mit dem Merkmal „privacy by design“ gefördert sowie rechtliche und technische Rahmenbedingungen geschaffen werden, die gewährleisten, dass unerwünschte oder gar nachteilige Datennutzungen abgewehrt werden können. Datengestützte automatisierte Entscheidungssysteme müssen so entwickelt und eingesetzt werden, dass es nicht zu gruppenspezifischen Gerechtigkeitsproblemen kommt. Gerade wenn es um das Wohlergehen von Menschen geht, braucht es effektive Absicherungen, um Einzelfälle und atypische Lebenslagen zu berücksichtigen sowie Risiken zu minimieren. Automatisierte Entscheidungen sollen transparent, überprüf- und korrigierbar und auf einfachem Wege anfechtbar sein, im Zweifel durch das Recht auf eine menschliche Entscheidung. Dazu müssen Betroffene über deren Einsatz stets transparent, verständlich und nachvollziehbar in Kenntnis gesetzt werden.

7. Auch das Gemeinwohl im Netz gehört gestärkt. Das bedeutet, gezielt den „dritten Sektor“ im Internet zu fördern, also gemeinnützige, allgemein verfügbare Open-Source-Projekte zu unterstützen. Staat und Zivilgesellschaft sollen ihre Vorbildfunktion wahrnehmen, diese Dienste selbst einzusetzen oder gar anzubieten und damit bei deren Entwicklung und Etablierung zu helfen. Zu prüfen sind darüber hinaus Möglichkeiten der Begrenzung oder Regulierung gewerblicher Anbieter. F&E-Förderprojekte, ob umfangreiche zu zukunftsweisenden Technologien wie “Künstliche Intelligenz”, Augmented Reality, Virtual Reality, 3D-Druck etc. oder auch kleinere Förderungen sollen - wo möglich - Vorhaben zugunsten benachteiligter Gruppen oder zum Ausgleich anderer anerkannter gesellschaftlicher Missstände unterstützen.

8. Digitale Angebote des Staates müssen darauf angelegt sein, Menschen zu empowern. Neu entstehende schlanke Angebote auf staatlichen Plattformen verkürzen bald die Amtswege und den Zugang zu Entscheidungsträgern (E-Government, E-Partizipation, E-Recht, OZG). Gerade im Sozialbereich nimmt die Freie Wohlfahrtspflege zusammen mit den Kommunen eine zentrale Vermittlungs- und Beratungsrolle wahr. Nur gemeinsam können die neuen Angebote so realisiert werden, dass die Betroffenen weiterhin ganzheitliche, vernetzte Unterstützung (nicht nur finanzielle) und einen leichteren und erweiterten Zugang zur Verwaltung erhalten. Dazu gehört auch das Recht auf sanktionsfreie nicht-elektronische Beratung. Digitalisierung darf zudem nicht dazu missbraucht werden, staatliche Kontrolle und Überwachung zu forcieren.

9. Digitaler Wandel wird auch im Kleinen gestaltet – und sollte partizipativ gestaltet werden. Die digitale Transformation wird bereits in etlichen Betrieben und Organisationen vollzogen. Digitale Teilhabe bedeutet an diesen Orten: die Planung, Implementierung und Evaluation von Digitalisierungsprozessen wird konsequent unter Einbindung derjenigen gestaltet, die davon betroffen sind, bspw. durch Einberufung von Mitarbeiter*innenstäben zur Beratung, Umsetzung und Evaluation der Digitalisierung und Entbürokratisierung betriebsinterner Prozesse, Ausweitung des innerbetriebliches Vorschlagswesens, gemeinsame Erarbeitung einer Digitalisierungsstrategie, zeitgemäße Projektmanagementmethoden o.ä.. Dafür braucht es Unterstützung und Beratung, welche die soziale Branche im Fokus hat, und Förderausschreibungen, die die Leistungen und Strukturen der sozialen Arbeit berücksichtigen bzw. bedarfsgerechte Regelungen zur Refinanzierung.

10. Digitale Teilhabe für alle – auch international. Als Wohlfahrtsverband mit auch international tätigen Mitgliedsorganisationen ist uns unsere internationale Verantwortung ein wichtiges Anliegen. Digitalisierung verheißt die Chance globaler Vernetzung, Verständigung und Kooperation. In zahlreichen Ländern werden Digitaltechniken jedoch missbraucht, um die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen zu überwachen, zu unterdrücken oder gar zu verfolgen. Errungenschaften zugunsten von Demokratie und Teilhabe können aufgrund des transnationalen Charakters des Internets jenseits der Grenzen mit Leichtigkeit wieder unterwandert werden.
Für die Wohlfahrtspflege beinhaltet Digitalisierung dagegen das Streben nach einer solidarischen Weltgesellschaft, die Teilhabe und ein gutes Leben für alle fördert. Darum unterstützen wir Vorhaben, die das Ziel verfolgen, Demokratie und Menschenrechte international sowohl in den Rahmenbedingungen des digitalen Raums als auch in der Produktion digitaler Hardware und Dienstleistungen zu stärken und zu verankern.