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Coronakrise: Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg.

Ist das Covid-19-Virus „der große Gleichmacher“ unserer Zeit? Dr. Joachim Rock, Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa beim Paritätischen, analysiert die Verschärfung der Klassengegensätze in der Krise und hat eine klare Antwort auf diese Frage.

Es sind dystopische Bilder: Mit Bauzäunen eingeschlossene Wohnanlagen mit jeweils hunderten von Menschen, bewacht von privaten Sicherheitskräften und der Polizei. Rettungskräfte in Schutzkleidung reichen Lebensmittel über die Zäune, Bundeswehr und Ordnungsbehörden untersuchen gemeinsam Wohnungen. Es sind aber auch aktuelle Bilder, wie sie noch vor wenigen Tagen in Verl-Sürenhagen, Göttingen und andernorts entstanden. Sie widerlegen in aller Drastik die These, dass das Virus „der große Gleichmacher“ sei. Das Gegenteil ist der Fall: die Krise und das Virus treffen zuvorderst die Ärmsten. Sie treffen diese Menschen ungeschützt mit ganzer Härte, weitab von den Sphären öffentlicher Aufmerksamkeit. Sicher, es gibt sie, die Berichte von der Not der obdachlosen Menschen, Berichte über die Retraditionalisierung von Geschlechterrollen und über den Beitrag des Virus dazu, Ungleichheit im Bildungswesen weiter zu radikalisieren. Diese Beiträge jedoch sind die Ausnahme, denn es sind gerade die einkommensstärkeren Gruppen, die sich durch die Krise beeinträchtigt fühlen.

Seit Anfang April untersucht das Projekt SOEP-CoV des Sozio-oekonomischen Panels am DIW Berlin zusammen mit der Universität Bielefeld Faktoren und Folgen der Corona-Krise. 12.000 Menschen werden dazu befragt. Zu den ersten Zwischenergebnissen des Projekts zählt: „Über alle Einkommensgruppen hinweg wird im April 2020 eine ähnliche Lebenszufriedenheit berichtet. Personen aus Haushalten mit niedrigerem Einkommen haben eine höhere Lebenszufriedenheit, während bei Personen aus Haushalten mit hohem Einkommen die Lebenszufriedenheit leicht sinkt“ (Entringer/Kröner 2020, 4). Die Befunde widersprechen nur scheinbar der Intuition, tatsächlich spiegeln sie die sozialen Realitäten. In der Krise sind es vor allem die Menschen, denen es eigentlich gut geht, die etwas zu verlieren haben, die sich eingeschränkt fühlen. Für diejenigen, die wenig bis nichts zu verlieren haben, ändert sich kaum etwas. Krisen sind für sie die Regel, nicht die Ausnahme.

Die schlechte Internetverbindung im Homeoffice und die narzistische Kränkung eines Einreiseverbotes nach Mecklenburg-Vorpommern mögen die oberen Einkommensgruppen hart treffen. Es bleiben aber Probleme, die andere gerne hätten. Die Menschen, die in häufig schlecht bezahlten Dienstleistungstätigkeiten beschäftigt sind, erfahren, dass ihre Verfügbarkeit auch in der Krise und trotz gewachsener gesundheitlicher Risiken schlicht vorausgesetzt wird. Das betrifft weit mehr, als die Menschen im Handel und in CARE-Bereichen. Es betrifft auch die Gerüstbauer, Reinigungskräfte, Feuerwehr, Polizei und Sicherheitskräfte. Es sind die Menschen, die neuerdings als „systemrelevant“ bezeichnet werden. Als „systemrelevant“ gerettet und bezahlt dagegen werden andere.

Man kann es drehen und wenden, man kann die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße und wieder auf den Kopf stellen: Die Krise legt schonungslos offen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Menschenwürde für ganze Gruppen von Menschen relativiert und grundlegende arbeits- und sozialrechtliche Standards schlicht suspendiert werden können. Das passiert nicht zufällig, es passiert systematisch. Politiker wie Bundesarbeitsminister Heil mit seiner Kritik an diesen Verhältnissen und der nordrhein-westfälische Sozial- und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann – beide jeglicher Sympathien mit Ausbeutungsstrukturen unverdächtig – haben Recht, wenn man, wie Laumann, formuliert, dass solche Missstände seit Jahren bekannt sind.

Karl Marx bemerkte einmal, dass sich die Weltgeschichte wiederhole, „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. Die Einschätzung trifft hier in besonderem Maße, denn der Duden nennt als eine der Bedeutungen von Farce „aus gehacktem Fleisch (…) hergestellte Füllung“. Und tatsächlich lesen sich die Berichte aus den Fleischfabriken der Gegenwart wie Berichte aus nur scheinbar vergangener Zeit. 1906 erschien „Der Dschungel“, in dem Upton Sinclair Leben, Leiden und Sterben der – im Buch überwiegend litauischen - Arbeitenden in den Chicagoer Fleischfabriken schilderte. Sinclair hatte selbst mehrere Wochen dort gearbeitet. Er schrieb: „Besucher (…) weinten gelegentlich, aber die Schlachtemaschine lief weiter. (…) Es war wie ein entsetzliches Verbrechen, das in einem Verlies begangen wurde, unbemerkt und unbeachtet, dem Blick verborgen und aus der Erinnerung gelöscht.“ (S. 43) Wenn solche Missstände aber fortbestehen oder, schlimmer noch, als Neuinszenierung von Klassikern der sozialen Vormoderne in der Gegenwart aufgeführt werden, verweist das auf fehlenden Willen oder gar auf fehlende Möglichkeiten, etwas zu ändern.

Fehlender Wille bezieht sich hier nicht auf die politisch Handelnden. Wer Verantwortung derart personalisieren würde, lenkt unbewusst oder absichtsvoll davon ab, dass soziale Disparitäten in struktureller Gewalt münden. Dass soziale Disparitäten erst dann zum gesellschaftlichen Skandal werden, wenn ihre Folgen die Lebensqualität der Wohlhabenderen zu beeinträchtigen drohen, ist eine Erfahrung, die Upton Sinclair früh machen musste. Über den Dschungel bemerkte er: “Ich hatte mich viel weniger für das ,verdammte Fleisch‘ interessiert als für etwas ganz anderes, das Inferno der Ausbeutung. […] Ich erkannte, dass […] sich die Öffentlichkeit nicht um die Arbeiter scherte, sondern nur kein tuberkuloseverseuchtes Rindfleisch essen wollte.“ Die damalige Tragödie wiederholt sich in der Gegenwart im modernen Gewand. Mit elenden Unterkünften, mit Ausbeutungsverhältnissen und zivilisatorischen Lichtungen allein lässt sich keine gesellschaftliche Aufklärung erzeugen. Das passiert erst, wenn die Wohlfahrt der Wohlhabenden gefährdet ist, mit den Worten Karl Kraus‘: „Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht“. Dass die Hemmschwellen unterhalb jener Schwelle keine sind, zeigt die Äußerung des Fleischfabrikanten Tönnies vom 13. Mai 2020, als er bemerkte: „Kritik darf nicht zur Manie werden“.

Besonders besorgniserregend ist, dass die Verantwortung für die Verbreitung des Covid-19-Virus zunehmend häufiger nicht in den sozialen Verhältnissen und wirtschaftlichen Strukturen verortet wird. Sie wird stattdessen personalisiert, gerade marginalisierte Gruppen werden dafür verantwortlich gemacht. Der – inzwischen zurückgenommene – Schuldvorwurf des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet, die Verbreitung habe nichts mit Lockerungen zu tun, sondern sei entstanden, „weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt“, spricht Bände. Auch andere Gruppen sehen sich pauschalen Verdächtigungen und Schuldzuweisungen ausgesetzt, etwa Obdachlose und vorgeblich „bildungsferne“ Gruppen. Umgekehrt gerät soziale Distinktion zur Tugend. So reklamieren die Privaten Krankenversicherer auch für sich, dazu beigetragen zu haben, dass Deutschland vergleichsweise gut durch die Corona-Krise gekommen ist, etwa durch die Finanzierung von Einbettzimmern für ihre Versicherten. Reichtum und Luxus werden so zum Verdienst, der Mensch in der Mangelsituation zum Gesundheitsrisiko.

Die eigentlichen Ursachen des dramatischen Anstiegs von Neuinfektionen in einzelnen Regionen werden so aus dem Blickfeld gehalten. Wie ein Sprichwort sagt: Wenn das Aug‘ nicht sehen will, dann helfen weder Licht noch Brill‘. Nur deshalb lassen sich unhaltbare Zustände bis in die Gegenwart halten. Das muss nicht so sein: Der Staat verfügt über genügend Handlungsmöglichkeiten. Die Umgehung grundsätzlicher arbeits- und sozialrechtlicher Standards lässt sich rechtlich einhegen und durch Kontrollen durchsetzen. Deutliche höhere Mindestlöhne, wie sie der Paritätische seit Jahren fordert, und die Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die allgemeinen Sozialversicherungen, sind ohnehin überfällig. Das Hartz IV-System endlich zu überwinden und die vorgelagerten Sozialversicherungssysteme armutsfest auszugestalten, gehört ebenfalls auf einen der vordersten Plätze der politischen Agenda. Dass einkommensarmen Menschen in der Krise bisher keine speziellen Hilfen – wie etwa #100EuroMehrSofort – zukamen, noch in der Krise nun aber das Sanktionssystem wieder in Betrieb gesetzt wird, ist dagegen skandalös.

Es gibt viele Möglichkeiten, das alles zu ändern, selbst im „Schweinesystem“ der Fleischwirtschaft: In Dänemark, ebenfalls ein Land mit einer sehr großen Fleischproduktion, gibt es keine vergleichbaren Fälle, aber deutlich bessere Arbeitsbedingungen: flächendeckende Tarifverträge, Stundenlöhne von 25 Euro und mehr, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die Vermeidung von Massenunterkünften zählen dazu. Das ist nur vordergründig teurer, denn die Kehrseite der skandalösen Arbeitsbedingungen in den deutschen Fleischfabriken ist die Externalisierung von Kosten auf die Arbeitenden und ihre Familien und auf die Gesellschaft insgesamt. Damit muss sich niemand abfinden: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Literatur:

Entringer, Theresa/Kröger, Hannes 2020: Einsam, aber resilient – Die Menschen habenden Lockdown besser verkraftet als vermutet. In: DIW Aktuell Nr. 46. 9. Juni 2020.

Autor:
Joachim Rock

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de