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Erzähl mir (m)eine Geschichte

Wenn mir eine gute Geschichte erzählt wird, vergesse ich die Welt um mich herum. Dann vergesse ich, was ich gerade tun oder sagen wollte. Manchmal vergesse ich sogar, dass es sich um eine Geschichte handelt und nicht Realität ist. Dazu brauche ich nicht immer ein gutes Buch, das schafft auch ein gutes Social-Media-Posting.

Eigentlich kennen wir das alle. Wir lesen einen Roman oder sehen einen Film und krallen unsere Hände in die Sessellehne, wenn uns die erzählte Geschichte ergreift und alles andere vergessen lässt. Oder wir treffen einen alten Freund, der uns mit funkelnden Augen von seiner letzten Reise berichtet, sodass wir uns selbst an die französische Küste versetzt fühlen, die Sonne auf unseren Schultern und den Sand unter unseren Füßen spüren können.

„Eine Geschichte, in der ich selbst nicht stattfinde, langweilt mich zu Tode.“ (John Steinbeck)

Genauso verhält es sich mit dem Geschichtenerzählen in den sozialen Medien. Es soll darum gehen zu berühren, die Aufmerksamkeit der Leser*innen zu bekommen, indem wir in einen Dialog mit ihnen treten und sie an dem Erzählten teilhaben lassen. Ja sicher, dahinter steckt ein Kalkül, keine Frage. Aber bei der wichtigen Arbeit, die alle Menschen des sozialen Sektors tagtäglich leisten, geht es ja nicht darum, ein Produkt zu verkaufen, sondern Reichweite zu bekommen. Um die Menschen zu erreichen, die unsere Hilfe benötigen und jene, die uns unterstützen wollen.

Ein Beispiel: Die Selbsthilfevereinigung pro Retina bietet ein breites Angebot an Unterstützungen für Menschen, die an einer Netzhautdegeneration leiden. Für die Bekanntmachung ihrer Arbeit haben sie bereits einen professionellen Facebook-Auftritt. Für die Organisation stellte sich irgendwann die Frage, wie sie ihre Netz-Community zu der Wahrnehmung ihrer Beratungsangebote bewegen können. Wie schaffen sie es, von soundso vielen Likes zu einer Anfrage ihres Angebots?

Pur – Authentisch – Emotional – Klar – Echt

Ausgehend von ihrer Lieblings-Metapher, bei Facebook handle es sich um einen Kneipenstammtisch, an dem man einen Schwank Erlebtes erzählt, zuhört und mitdiskutiert, machte sich das Social-Media-Team von Pro Retina an ihre Story. Der kleinste gemeinsame Nenner ihrer Zielgruppe ist das Schicksal der Erkrankung bei einem selbst oder bei einem*einer Bekannten. Ausgehend von diesem Fakt entwickelten sie zwei Charaktere, im Marketing-Jargon „Personas“, die so detaillierte Beschreibungen erhielten, dass wir den Eindruck haben, sie persönlich zu kennen. Bei der Erstellung des Facebook-Beitrags sollten diese beiden Personen angesprochen, ihre Bedürfnisse adressiert werden. Kern des Posts ist hierbei der besagte Nenner, der zwei völlig unterschiedliche Personen mit dem gleichen Schicksal ansprechen würde.

Bei der Entwicklung ihrer Geschichten hilft es den beiden, sich immer wieder zu fragen: „Für wen machen wir unsere Arbeit?“. Denn, wenn wir nicht Tag für Tag mit den Menschen zusammen sind, für die wir unseren Beruf ausüben, verlieren wir sie und ihre Bedürfnisse manchmal aus dem Blick. Dieser Effekt ist ganz normal und tritt bei vielen Mitarbeiter*innen von Organisationen auf, die neben der praktischen Arbeit auch fachliche und Verwaltungsaufgaben verrichten. Da nehmen die Theorie und der bürokratische Alltag manchmal überhand und die Empfänger*innen der Leistung sind nur noch ein kleiner Punkt am Horizont.

Aber zurück zu Pro Retina. Die Organisation hat ihre eigene Sprache gefunden. Die Verfassenden des Posts sprechen mich sofort an, sie nehmen mich mit und lassen mich den Text Wort für Wort aufsaugen. Das gewählte Bild, die Verlinkungen und sparsam eingesetzte Emojis rahmen die Geschichte passend ein und verleiten mich intuitiv dazu, dem Link zu folgen, ein Like zu geben. Hier gibt es keine Kluft zwischen der Organisation und der Leserschaft. Es gibt kein wir und ihr, kein fachliches Wissen, das mir ins Gesicht geschlagen wird. Es ist ein Text, der mich an ein persönliches Gespräch erinnert und mich auf die Arbeit der Menschen neugierig macht, die ihn verfasst haben.

Workshop Crossmediales Storytelling

In den Herbstmonaten Oktober und November veranstaltete der Paritätische Gesamtverband im Rahmen des Projekts #Gleich Im Netz zwei inspirierende Train-the-Trainer-Seminare zum Thema „Crossmediales Storytelling“. Zu dem Programm 2019 zählte auch die Ausbildung von über 100 Online-Scouts aus ganz Deutschland zur Arbeit mit Social Media und Online-Werkzeugen. Für 2020 ist der Ausbau dieses Netzwerks um weitere Scouts und das Angebot vieler spannender Weiterbildungen geplant. Zum Projekt gehören außerdem der Webzeugkoffer mit zahlreichen Online-Werkzeugen für den Arbeitsalltag sowie die Profilplattform Wir-sind-Parität.

Autorin:

Lilly Oesterreich

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de