Statement von Dr. Ulrich Schneider zum Kampagnenstart von HartzFacts mit Sanktionsfrei
07.07.2020, von , 5 Kommentare
Vorurteile auf der einen Seite und der repressive und ausgrenzende politische und administrative Umgang mit Hartz IV-Bezieher*innen auf der anderen Seite stehen in einem direkten Zusammenhang. Die Zuschreibung der Arbeitsunwilligkeit ist von zentraler Bedeutung. Das Vorurteil der Arbeitsunwilligkeit ist politisch nützlich. Es lenkt ab vom Versagen der Bundesagentur für Arbeit und der politisch Verantwortlichen, wenn es um die Integration von Hartz-IV-Beziehern in Erwerbsarbeit geht. Und es rechtfertigt scheinbar irgendwie, wenn die Leistungen für Hartz IV-Beziehende so knapp bemessen werden, dass sie Menschen in echte Not stürzen und Ausgrenzung aus der Mitte unserer Gesellschaft die zwangsläufige Folge ist.
In der letzten Woche sind die Vorschläge des Bundesarbeitsministeriums (BMAS) zur Neubemessung der Regelsätze ab 1.1.2021 bekannt geworden. Sie basieren auf komplexen Berechnungen auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes, die alle fünf Jahre vorgenommen werden. Danach soll der Regelsatz für einen Single von derzeit 432 Euro um 1,6 Prozent auf 439 Euro steigen. Für Jugendliche ist ein Anstieg um 11,9 Prozent von 328 auf 367 Euro vorgesehen, für Kleinkinder unter 6 Jahren eine Anhebung von 250 auf 279 Euro (11,6%) und für Schulkinder zwischen 6 und 13 Jahren soll gar keine Erhöhung erfolgen. Die Berechnungen hätten ergeben, dass diese mit derzeit 308 Euro im Monat ohnehin schon 4 Euro zu viel bekämen.
Bereits in der Vergangenheit hat der Paritätische massive methodische Kritik an dem von der Bundesregierung gewählten Statistikmodell geübt. Die Geschichte der Regelsatzberechnung ist seit der Einführung von Hartz IV eine Geschichte manipulativer Eingriffe in die Statistik und von statistischen Tricksereien mit dem Ziel, die Regelsätze möglichst kleinzurechnen. Tatsächliche Bedarfe spielten dabei niemals eine wirkliche Rolle. Ebenso wenig der Alltag der Menschen. Die im statistischen und ministeriellen Elfenbeinturm kreierten Regelsätze gehen regelmäßig ganz bewusst und in voller Absicht an jeder Alltagswirklichkeit und Lebenserfahrung vorbei. Was wir in den letzten 16 Jahren in Sachen Regelsatz erleben, ist nicht die Anwendung von Statistik, sondern ihr Missbrauch.
Doch wollen wir heute gar nicht die Methodik in den Fokus stellen, mit der die Bundesregierung seit Jahren bedarfsdeckende Regelsätze verhindert. Uns ist klar: Bei der Frage des notwendigen Lebensunterhaltes handelt es letztlich sich immer um politische Setzungen, auch wenn sie sich hinter statistischen Nebelkerzen zu verstecken versuchen. Angesichts der eklatanten Diskrepanz zwischen ministerialen Berechnungen und Alltagserfahrung wollten wir es genau wissen: Was glauben die Menschen in Deutschland mit ihrer ganz praktischen Lebenserfahrung, was man für Lebensunterhalt – neben den Wohnkosten – benötigt? Und wie verhält sich das zu dem, was Minister Heil ab 2021 als Regelsätze vorsieht?
Wir haben dazu bei Forsa eine Befragung in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse sind von bemerkenswerter Klarheit:
Nicht einmal jeder Fünfte geht davon aus, dass ein Single mit 439 Euro im Monat, wie von Minister Heil vorgeschlagen, seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Die breite Mehrheit nennt Beträge über 600 Euro. Im Durchschnitt geben die Befragten 728 Euro als notwendig an.
Für eine Paarfamilie mit zwei Kindern von 6 und 17 Jahren sieht der Arbeitsminister für 2021 einen Regelbedarf von bis zu 1.465 Euro monatlich vor. Nur ein Drittel der Befragten hält diesen Betrag für ausreichend, um den Lebensunterhalt für eine solche Familie zu bestreiten. Im Schnitt werden sogar 1.796 Euro angesetzt, die eine Familie mit zwei Schulkindern benötigt – also 23 Prozent mehr.
Und dass man ein Vorschulkind mit lediglich 279 Euro über den Monat bringen kann, glauben ebenfalls nur 39 Prozent der Befragten.
Im August will der Arbeitsminister seine Regelsatzvorstellungen ins Kabinett einbringen, im Oktober sollen sie Bundestag und Bundesrat beschließen und im Januar 2021 sollen diese erneuten Armutssätze dann armselige Realität werden.
Weitere fünf Jahre soll damit eine Berechnungsweise zu den Regelsätzen fortgeführt werden, die von so gut wie allen Expert*innen, von so gut wie allen Sozial- und Wohlfahrtsverbänden und dem Deutschen Gewerkschaftsbund abgelehnt wird. Weitere fünf Jahre sollen die Hilfebedürftigen in Hartz IV und in der Grundsicherung für alte und erwerbsgeminderte Menschen auf Beträge verwiesen werden, die mit der Bedarfsrealität in Deutschland wirklich nichts zu tun haben, wie nicht nur Experten, sondern auch eine überwältigende Mehrheit in der Bevölkerung überzeugt ist. Weitere fünf Jahre soll mit dieser Berechnungsweise Armut amtlich festgeschrieben werden.
Wir appellieren an den Bundesarbeitsminister und die gesamte Bundesregierung: Machen Sie diesem unwürdigen statistischen Spiel mit den Regelsätzen und der Armut endlich ein Ende. Verzichten Sie endlich auf ein Kleinrechnen der Regelsätze, auf das Kürzen und die Streichung von Ausgabepositionen, die vielleicht nicht für das nackte physische Überleben nötig sein mögen, wohl aber für etwas Chancengerechtigkeit und etwas Teilhabe an dieser Gesellschaft.
Wir fordern konkret:
- Die saubere Neuberechnung der Regelsätze auf der Basis des gegebenen Statistikmodells ohne manipulative Eingriffe in die Statistik und ohne willkürliche Kürzungen und Streichungen einzelnen Ausgabepositionen, wie sie derzeit praktiziert werden.
- Den Abgleich der Regelsätze mit der relativen Armutsgrenze von 60 Prozent des mittleren Einkommens. Bei Unterschreiten sind die Regelsätze entsprechend anzuheben.
- Die sofortige Einsetzung einer vom Bundesarbeitsministerium unabhängigen Kommission mit dem Ziel der inhaltlichen Aufarbeitung der Frage, was Menschen in dieser Gesellschaft mindestens brauchen für ihren Lebensunterhalt incl. Einer angemessenen Teilhabe an dieser Gesellschaft.
Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: Corona sucht seine Opfer vor allem unter den Armen. Es geht um Vorerkrankungen, um Wohn- und Arbeitsbedingungen, aber – mit Verlaub – auch um Geld. Geld, das bisher schon viel zu gering bemessen war, um über den Monat zu kommen, und das immer knapper wird angesichts z.T. geradezu sprunghaft angestiegener Lebensmittelpreise, zusätzlicher Kosten für Desinfektionsmittel und Schutzmasken und angesichts des Ausfalles von zusätzlichen Versorgungsangeboten wie der Tafeln und ähnliche wohlfahrtspflegerischer Einrichtungen. Dies scheint auch eine Mehrheit in der Bevölkerung so zu sehen: 56 Prozent sprachen sich in unserer Umfrage für zusätzliche finanzielle Hilfen für Grundsicherungsbezieher in diesem Corona-Zeiten aus. Nur ein Drittel lehnte dies ab.
Wir haben es begrüßt, dass die 300 Euro Kinderbonus, die im Rahmen des Konjunkturpaketes allen Kindern gewährt werden sollen, in Hartz IV anrechnungsfrei bleiben. Im Grunde eine Selbstverständlichkeit. Überhaupt kein Verständnis können wird jedoch dafür aufbringen, dass über fünf Millionen erwachsener Grundsicherungsbezieher keinerlei finanzielle Hilfen bekamen, obwohl gerade sie diese Krise häufig genug in echte existentielle Krisen führt. Es zeugt von bemerkenswerter armutspolitischer Ignoranz, wenn mit der Absenkung der Mehrwertsteuer 20 Milliarden Euro zur Stimulierung des Konsums bereitgestellt werden, wohlwissend, dass arme Menschen dabei so gut wie leer ausgehen. Gerade 8,20 Euro mehr Kaufkraft hat ein Grundsicherungsbezieher mit dieser Absenkung der Mehrwertsteuer im besten Fall in der Tasche. Wir fordern die Bundesregierung erneut auf: Tun Sie endlich auch etwas für die Ärmsten. Wir fordern 100 Euro Mehr sofort als Zuschlag auf die Grundsicherung.
Zur Kampagnenwebsite: https://hartzfacts.de/
Zur Pressemitteilung und weiteren Veröffentlichungen zu dem Thema: http://www.der-paritaetische.de/presse/hartz-iv-sanktionsfrei-und-paritaetischer-gesamtverband-fordern-menschenwuerdige-sanktionsfreie-und/
Werte Frau oder Herr (?) Meier,
vielen Dank für Ihren Kommentar!
Zu Ihrer Frage: "Könnte sich er Paritätische Gesamtverband sich mal schlau machen und mit dem BMAS in Kontakt treten, um eine genaue Aufklärung und Zustandekommen des neuen Regelsatzes 2021 zu erhalten."
Der Fachaustausch mit den für die Arbeitsbereiche des Paritätischen politisch Verantwortlichen gehört zu unseren Aufgaben als Spitzenverband.
Darüber hinaus wird es zum neuen Regelsatz auch in den kommenden Tagen und Wochen weitere Veröffentlichungen von uns geben. Wenn Sie unseren Newsletter abonnieren oder uns auf Facebook oder Twitter folgen, halten wir Sie auf dem Laufenden!
Viele Grüße
Matthias Galle aus der Online-Redaktion des Paritätischen Gesamtverbandes
Regelsatzerhöhung 2021 um 1,6 Prozent also bei einem Alleinstehenden 7 Euro Erhöhung.
Darin soll jedoch auch die Kosten für Mobilfunk enthalten sein.
geht man von ca. 5 Euro Mobilfunkkosten aus pro Monat, sind es noch 2 Euro mehr.
2 Euro ???
Das kann nach meiner Auffassung nicht richtig sein, da die Kostensteigerung, Löhne, Inflation (Warenkorb etc.) mit 2 Euro Erhöhung für 2021 nicht ausreichend ist.
Es müsste somit eigentlich 12 Euro ab 1. Januar 2021 (bei Alleinstehenden) sein.
Könnte sich er Paritätische Gesamtverband sich mal schlau machen und mit dem BMAS in Kontakt treten, um eine genaue Aufklärung und Zustandekommen des neuen Regelsatzes 2021 zu erhalten.
Lieben Dank
Mit freundlichen Grüssen
Es ist schon unglaublich wie die Jobcenter mit den Arbeitslosen umgehen.
Vor allem können sich die Arbeitslosen keinen Fachanwalt leisten- ein Beratungsschein ja, aber wer übernimmt das Mandat, um klagen zu können vor dem Sozialgericht?
Wenn es negativ läuft, sitzt der Arbeitslose auf mehr Schulden als er zuvor hatte ...
Diese Situation muss geändert werden. Die Prozeßkostenhilfe greift m. E. zu kurz.
Die Rechte der Arbeitslosen werden ignoriert, es zählt nur die Gesetzgebung im Sozialrecht.
Menschenwürde wird mißachtet, Existenzminimum klein gerechnet, knappe Termine für Zahlungsaufforderungen ... die Jobcenter sind erfinderisch, um den Arbeitslosen zu schaden.
Die Rechte der Arbeitslosen sowie die Verfassung werden bei Urteilsbildung der Jobcenter außen vor gelassen. Das ist ein Skandal!
Eine Rechtsberatung für Arbeitslose durch einen Fachanwalt wäre ideal (gegen eine geringe Gebühr), die Arbeitslosenzentren können in Rechtsangelegenheiten nicht wirklich helfen.
Das derzeitige Thema zum ALG2-Regelsätze etc. wird ausführlich diskutiert, aber was nützt das, wenn die Einsichten von unseren Bundespolitikern und unserer Bundesregierung nicht anerkannt werden?
Und überhaupt - wer hat bestimmt, dass Arbeitslose nur 30 € von erhaltenen Hilfeleistungen behalten dürfen?
Selten dürfen Arbeitslose einen Mehr- oder Sonderbedarf bekommen. Darlehn werden meistens abgelehnt.
Die ALG2-Bezieher haben überhaupt keine Chance aus ALG2 heraus zu kommen.
Wenn die Regelsätze der Realität entsprechen würden, hätten die wenigstens Arbeitslosen Probleme ein menschenwürdiges Leben zu führen. Denn Arbeit gibt es nicht für jeden Arbeitslosen, auch wenn dies oft behauptet wird.
Diese Kampagne finde ich in dieser Form falsch, da sie viel zu defensiv ist und wichtige Punkte gar nicht aufgreift.
Wer welche Vorurteile hat ist m.M. nach erst einmal völlig egal, ich war vor ALG II fast 20 Jahre selbständig und hätte mir vieles auch nicht vorstellen können, ich dachte, die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat, man muß dies wohl erst mal selbst erlebt haben.
Als da wären:
Briefe mit Vorladungen zu Terminen, die so spät abgeschickt werden, daß sie erst am Tag des Termins selbst ( Stunden zu spät ) oder am nächsten Tag ankommen.
Während das Jobcenter für einen Überprüfungsantrag bis zu ein halbes Jahr Zeit hat, wie soll der Arbeitslose zu Unrecht nicht gezahltes Geld eigentlich ausgleichen ?, setzt es völlig unmögliche Fristen,
z.B. 10 Tage für einen Termin beim Facharzt inkl. Fachgutachten.
Als Kassenpatient nahezu unmöglich.
Oder ausgerechnet in den Sommerferien verlangt man innerhalb von 14 Tagen eine aktualisierte Nebenkostenabrechnung.
Jobcenter produzieren so einen Teil der "Pflichtverletzungen" selbst, damit sie sanktionieren können.
Strafrechtlich relevant ist, daß hier ständig Unterlagen und Briefe verschwinden, selbst wenn sie vor Zeugen eingeworfen werden.
Schickt man Unterlagen per Einschreiben ist dann die wichtigste Seite angeblich nicht im Umschlag gewesen.
Bei Faxen wird trotz Sendebericht abgestritten, erst vor Gericht taucht die zugefaxte Seite dann auf.
Dies kann nicht nur von "oben" gedeckt werden, sondern es wird angeorndet, anders ist es nicht zu erklären.
Warum wird dieses strafbare Verhalten der Jobcenter Mitarbeiter nicht auf Plakatwänden thematisiert ?
Warum hört man kein Wort vom deutschen Beamtenbund dazu ?
Die Unterschlagung von Unterlagen ist strafbar, für Beamte erst recht.
Ein Teil der BA Mitarbeiter ist doch noch beamtet !
Ohne Sanktionen in der Grundsicherung und mit angemessenen Regelsätzen i. H. v. 600 Euro monatlich ist die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG dann endlich wieder verwirklicht.
Eine verfassungsmäßige Verpflichtung dazu ergibt sich aus Art. 20 Abs. 3 GG:
"Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung ... gebunden."
Ferner aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG:
"Sie [Die Menschenwürde] zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Und aus Art. 1 Abs. 3 GG:
"Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht."
Neben dem Grundrecht auf eine menschenwürdige Grundsicherung gilt ebenso unmittelbar wie unantastbar das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG:
(1) "Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen."
(2) "Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden"
(3) "Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig."
Gegen all diese höchsten gesetzlichen Vorgaben haben die Gesetzgeber und Regierungen der letzten Jahre eklatant verstoßen. Maßgeblich waren dies die Parteien SPD, CDU und CSU. Was daran sozial oder sogar christlich ist, unsere auf Menschenwürde ausgerichtete Verfassung jahrelang, permanent und dauerhaft zu missachten, mögen die Täter wohl niemandem mehr glaubhaft erklären können. Verfassungstreue ist jedenfalls nicht vorhanden.