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Meilensteine für soziale Gerechtigkeit

Ein historischer Tag

Die Veröffentlichung des ersten Armutsberichts fällt ausgerechnet auf das Datum des Mauerfalls (9.11.1989). Obwohl es der Bericht sogar in die Tagesschau schafft (© ARD Aktuell), überlagern anschließend die Bilder vom Fall der Mauer das Tagesgeschehen. Dabei erfolgt die Initialzündung für eine gesonderte Berichterstattung über Armut bereits Jahre zuvor. Erst auf lange Sicht zeigt sich jedoch der Erfolg des Armutsberichts des Paritätischen: Die Veröffentlichungen werden zur festen Instanz einer sozialkritischen Berichterstattung und finden in der breiten Öffentlichkeit Gehör.

Der Weg zum ersten Armutsbericht

Die Initialzündung zur Erstellung eines eigenen Armutsberichts ist ein Referat, das Jutta Nöldeke auf der Beiratssitzung des Paritätischen am 25. April 1986 hält. Die Juristin ist bereits seit Jahren erfolgreich im Verband aktiv und berichtet unter dem Tagesordnungspunkt „Neue Armut – Folgerungen für den DPWV“ über die Situation des bundesrepublikanischen Sozialstaates und das Phänomen der „neuen Armut“. Die sogenannte „neue Armut“ sei demnach eine Folge unterschiedlicher gesellschaftlicher Problematiken. Nicht alle Teile der Gesellschaft partizipieren im gleichen Maß am wirtschaftlichen Wachstum. Der Grund dafür liege darin, dass dieses Wachstum Ergebnis gesteigerter Produktivität ist, welche viele Arbeitskräfte überflüssig macht. Die so in die Arbeitslosigkeit Geratenen haben daher wesentlich größere Schwierigkeiten, erneut einen Job zu erhalten und bleiben länger ohne Arbeit. Dabei ist die bisherige Form der Arbeitslosenhilfe primär darauf ausgerichtet, Situationen der Arbeitslosigkeit kurzzeitig zu überbrücken. Andere Betroffene von neuer Armut, wie zum Beispiel Alleinerziehende, würden nicht ausreichend im bestehenden System aufgefangen.

Weder der Begriff der „neuen Armut“ noch die Idee eines Armutsberichts sind neu, aber das Problem bleibt akut: Infolge eines zuvor veröffentlichten Armutsberichts der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, der sogenannte Hauser-Bericht, bestreitet die Bundesregierung 1981 sogar in einer Stellungnahme die generelle Existenz von Armut in Deutschland – hinzu kommt, dass die 1982 angetretene liberal-konservative Bundesregierung den sozialpolitischen Sparkurs weiter verschärft. Infolgedessen sind weder die Akzeptanz der Probleme noch ausreichende Lösungen zur Bewältigung vorhanden.

Der Beschluss, einen Armutsbericht zu erarbeiten, ist schließlich das Ergebnis der inhaltlichen Diskussion der erwähnten Beiratssitzung. Aus der im Beirat vertretenen Mitgliederbasis erwächst der Wunsch nach einer explizit sozialpolitischen Stellungnahme. Der Bericht soll demnach sowohl einen Einblick in die sozialarbeiterische Praxis der Mitgliedsverbände geben, als auch die Perspektive der Betroffenen näher bringen und politische Forderungen an die Politik richten. Mit einer neuen Arbeitsgruppe „Armut und Unterversorgung“ setzt der Vorstand unmittelbar den Beschluss um. Ulrich Schneider, der damalige sozialpolitische Referent und spätere Hauptgeschäftsführer (1999-2024), leitet die Arbeitsgruppe, die den Armutsbericht erstellt.

Der Armutsbericht von 1989

Der Sozialstaat belasse viele seiner Bürger*innen in Armut, heißt es im ersten Armutsbericht von 1989 mit dem Titel „Wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land“. Der Bericht behandelt in einzelnen Artikeln die Definition und Situation von Armut in Deutschland und betrachtet im Speziellen die Situation arbeitsloser Menschen, von Ausländer*innen, Geflüchteten, Großfamilien, Alleinerziehenden, psychisch erkrankten Menschen, Senior*innen, Frauen sowie von Obdachlosigkeit betroffenen Menschen.

Tatsächlich braucht es knapp fünf Jahre, bis der nächste Armutsbericht veröffentlicht wird. Im Jahr 1994 wird gemeinsam mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und der Hans-Böckler-Stiftung ein neuer Bericht herausgegeben. Als Meilenstein in der Armutsberichterstattung wird auch der 2009 herausgegebene Armutsatlas gesehen: Im Zusammenwirken mit dem Statistischen Bundesamt lenkt der Verband somit den Blick auf die Regionen in Deutschland. Nicht nur die soziale, sondern auch die regionale Zerrissenheit des Landes in Bezug auf Armut wird so deutlich. Seit 2011 findet eine kontinuierliche und jährliche Armutsberichterstattung durch den Paritätischen statt.

Die Bedeutung des ersten Armutsberichts

Trotz der historischen Bedeutung des Datums schafft es der erste Armutsbericht in die Tagesschau und kann auch wegen seines hohen fachlichen Niveaus, der innovativen Erklärungsmodelle und den vielschichtigen Perspektiven als Erfolg bezeichnet werden. Für den Paritätischen ist der erste Armutsbericht von 1989 Markstein und Wendepunkt in der Verbandsgeschichte. Dass Armut nun überhaupt ein Politikum darstelle und die Bundesregierung selber, wenn auch erst seit 2001, einen Armutsbericht herausgebe, seien durchaus langfristige Erfolge des ersten Armutsberichts und der daran anschließenden kontinuierlichen Bearbeitung des Themas durch den Verband zu verdanken, berichtet zwanzig Jahre später Mitautor Armin Kuphal.

Grundsätze der Verbandspolitik

Die Veröffentlichung des ersten Armutsberichts fällt zeitlich nah mit der Verabschiedung der Grundsätze der Verbandspolitik für den Gesamtverband zusammen, die eine weitere Profilschärfung bedeuten. Die Grundsätze der Verbandspolitik werden auf der Mitgliederversammlung am 27. Oktober 1989 nach längeren innerverbandlichen Beratungen und Diskussionen beschlossen.

In den Grundsätzen heißt es unter anderem: „Getragen von der Idee der Parität, das heißt der Gleichheit aller in ihrem Ansehen und ihren Möglichkeiten, getragen von Prinzipien der Toleranz, Offenheit und Vielfalt, will der Paritätische Mittler sein zwischen Generationen und zwischen Weltanschauungen, zwischen Ansätzen und Methoden sozialer Arbeit, auch zwischen seinen Mitgliedsorganisationen.“