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Neues Selbstverständnis: Eine Stimme für die Vielfalt

Wechsel in der Hauptgeschäftsführung

Die 1980er Jahre beginnen für den Paritätischen Gesamtverband mit dem Ende einer Ära. Nach 24 Jahren übergibt Erwin Stauss das Amt des Hauptgeschäftsführers an Klaus Dörrie.

Mit Klaus Dörrie übernimmt ein Mann das Ruder, der bereits seit 1960 in verschiedenen Funktionen beim Paritätischen tätig ist. Sein besonderes Augenmerk gilt der Förderung der Selbsthilfe im Gesundheitsbereich. Als Hauptgeschäftsführer sieht er sich mit einem Sozialstaat im Umbruch konfrontiert. Der Abbau von Sozialleistungen und die tiefgreifenden Transformationsprozesse im Kontext der Wiedervereinigung prägen seine 19-jährige Amtszeit und sorgen dafür, dass sich der Verband zunehmend klar politisch positioniert.

Verband der Bürgerinitiativen und Selbsthilfeorganisationen

Selbsthilfe spielt im Paritätischen eine bedeutende Rolle und prägt den Charakter des Verbands bis heute wesentlich mit. Dieses Selbstbild hat sich in den 1980er Jahren gefestigt. Nach intensiven Debatten und der Aufnahme vieler Selbsthilfeorganisationen in den 1970er und 1980er Jahren artikuliert der Paritätische sich selbstbewusst als „Verband der Bürgerinitiativen und Selbsthilfeorganisationen“.

Dabei verändern sich mit der Mitgliederstruktur auch die Herausforderungen: Es kommen deutlich kleinere Mitgliedsorganisationen hinzu, die auch in verschiedenen inhaltlichen Fragen Austausch- und Beratungsbedarf haben.

Gleichzeitig werden in diesem Jahrzehnt weitere entscheidende Fortschritte dabei erzielt, ein breites Netz zu implementieren, das die Unterstützung der Selbsthilfe weiter institutionalisiert. Ein wichtiger Meilenstein ist dabei 1983 die Gründung der ersten „Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle“ (SEKIS) unter der Trägerschaft des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Nur ein Jahr später gründet sich mit der „Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen“ (NAKOS) eine weitere Institution, die diesen Aufgaben überregional nachgeht. Auch hier gibt es eine Verbindung zum Paritätischen: Die NAKOS ist in der Trägerschaft des Fachverbandes Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V., einer Mitgliedsorganisation des Paritätischen Gesamtverbandes.

Bedeutend für die weitere Verankerung der (gesundheitsbezogenen) Selbsthilfe im Paritätischen ist auch die Gründung des „FORUMS chronisch kranker und behinderter Menschen” im Jahr 1986 mit zunächst 38 Selbsthilfeorganisationen. Als übergreifender organisatorischer Zusammenschluss von Mitgliedsverbänden bündelt das Forum die Interessen der Mitglieder und vertritt die Position der von chronischen Erkrankungen und Behinderung betroffenen Menschen gegenüber Politik, öffentlicher Verwaltung und den gesetzlichen Krankenkassen.

Der Paritätische Gesamtverband ist heute einer der vier anerkannten Dachorganisationen der Selbsthilfe auf Bundesebene. Die 15 Paritätischen Landesverbände und ihre Mitgliedsorganisationen sind zudem Träger von 130 der 300 Selbsthilfe- und Unterstützungsstellen in Deutschland, die Beratung und Unterstützung für Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen anbieten.

Engagement für junge wohnungslose Menschen

In den 1980er Jahren entstehen im Paritätischen vermehrt Angebote für Menschen, die von den herkömmlichen Sozialstaatsmechanismen nicht oder nur unzureichend erfasst werden, etwa Jugendliche und Heranwachsende, die aufgrund von Konflikten mit ihrem Elternhaus oder den Sozialinstitutionen oder deren Normen, ohne Obdach sind. Diese zur damaligen Zeit als „Trebegänger“ bezeichneten jungen Menschen werden von den gängigen Heimnetzwerken nicht bedürfnisorientiert adressiert.

Der Paritätische sucht hier nach Alternativen zur Heimerziehung, etwa kleinen Wohngruppen und beteiligt sich aktiv am Ausbau der ambulanten Hilfe. Deutlich wird dabei auch ein Wandel in der Fürsorgearbeit: Die Wohnungslosigkeit wird als Resultat problematischer sozialer Beziehungen gesehen, man begegnet den Betroffenen nicht mehr mit Zwang und Fremdbestimmung, sondern mit lebensweltorientierter Sozialarbeit.

„Ausländerarbeit” als ein neuer Schwerpunkt

Im Zuge des Wirtschaftsbooms in der jungen Bundesrepublik werden seit 1955 sogenannte „Gastarbeiter“ angeworben, um den Mangel an Arbeitskräften abzufedern. Um die Bedürfnisse der ins Land kommenden Menschen kümmert man sich zunächst wenig, ebenso wie um das Thema Familiennachzug.

Im Jahr des Anwerbestopps für Arbeiter aus Nicht-EG-Ländern (1973) befinden sich rund 2,6 Millionen „Gastarbeiter“ in Deutschland. Sie stammen aus Vertragsländern wie Italien, Griechenland, Spanien, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Nun werden auch die Integrationsbemühungen verstärkt, Ende der 1970er Jahre treten immer mehr Organisationen in den Paritätischen ein, die sich um die Belange von ehemaligen „Gastarbeitern“ kümmern.

Im Gesamtverband führt dies ab 1980 zu verstärkten Diskussionen, wie die Arbeit dieser Mitglieder in geeigneter Weise unterstützt werden kann. Das Ziel ist dabei klar: Die nach Deutschland Gekommenen und ihre Familien sollen befähigt werden, ihre Problemlagen aus eigener Kraft zu bewältigen. Bis Mitte der 1980er Jahre wird die „Ausländerarbeit“ so zu einem festen Bestandteil des Paritätischen Arbeitsspektrums. 1986 sind bereits über 300 Organisationen aus diesem Bereich allein in den Landesverbänden des Paritätischen organisiert.

Es zeigt sich, dass die zunehmende sozialpolitische Stellungnahme in der Öffentlichkeit wirksam ist: Erfolge dabei sind unter anderem, dass das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) dem Verband eine „zentrale Koordinierungsstelle für Ausländerarbeit“ finanziert und der Paritätische außerdem 1982 in den Koordinierungskreis „Ausländische Arbeitnehmer“ aufgenommen wird. Dieses Gremium berät das BMA seit 1965 zu allen Fragen der Integration ausländischer Arbeitskräfte. Auch hier kämpft der Verband für eine finanzielle Unterstützung der von seinen Mitgliedsorganisationen durchgeführten „Sozialberatung von Ausländern“ durch das BMA.

Aber auch nach dem Anwerbestopp kommen sehr viele, vor allem türkischstämmige Menschen nach Deutschland, diesmal als Familienangehörige oder aber auch als Asylbewerber*innen. Paritätische Mitgliedsorganisationen reagieren darauf, indem sie türkischsprachigen Menschen den Zugang zu wichtigen Informationen erleichtern. Das Kinderzentrum Pelzerhaken, ein Mitglied des Landesverbandes Schleswig-Holstein, richtet beispielsweise ein Archiv für türkischsprachige Broschüren und andere Drucksachen für Familien ein.

Erste schwul-lesbische Organisationen im Paritätischen

Im Februar 1973 erreicht den Paritätischen Landesverband Nordrhein-Westfalen ein Antrag auf Mitgliedschaft der „Gay Liberation Front“ (GLF) aus Köln. Auch unter den Mitgliedern des Vorstandes des Paritätischen Gesamtverbandes wird der Antrag auf Aufnahme beraten und löst eine gewisse Irritation aus. Die Aufnahme der GLF Köln in den Paritätischen Landesverband Nordrhein-Westfalen wird nach kontroverser Diskussion nicht befürwortet, denn es handele sich bei der GLF „[...] in erster Linie um eine Kampforganisation für Homosexualität bzw. deren Anerkennung als gleichberechtigte Lebensform [...]. Auf diesen Charakter weise schon der Vereinsname unmissverständlich und unübersehbar hin. Ohne die Berechtigung oder Nichtberechtigung solcher Ziele abschließend zu beurteilen, lasse sich auf jeden Fall feststellen, dass sie im Kern nicht soziale Arbeit im herkömmlichen Verständnis darstelle.“

In den 1980er Jahren gelangt der Paritätische zu einer anderen Auffassung und erste schwul-lesbische Organisationen werden Mitte des Jahrzehnts Mitglied. So wird 1985 das „Kommunikations- und Beratungszentrum homosexueller Frauen und Männer e.V.“ (KBZ), das bereits 1981 gegründet wird, Mitglied im Paritätischen Landesverband Berlin.

Im Zuge des Auftretens der Immunschwächekrankheit AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome) entstehen in vielen westdeutschen Städten AIDS-Hilfen, um Aufklärung, Beratung und Hilfen für Betroffene zu leisten. Auch diese suchen Unterstützung im Paritätischen. 1986 wird die AIDS-Hilfe Hamburg Mitglied im Paritätischen Landesverband Hamburg, zwei Jahre später auch der entsprechende Bundesverband, die Deutsche Aidshilfe, im Paritätischen Gesamtverband.

„Arbeitslos, nicht wehrlos“

Im Dezember 1982 kommen rund 2.000 Menschen zum ersten Bundeskongress der Arbeitsloseninitiativen unter dem Motto „Arbeitslos, nicht wehrlos“ zusammen. Das Ziel ist die Implementierung einer bundesweiten Dachorganisation. Der Paritätische unterstützt den Kongress mit 200 D-Mark in Form von Briefmarken.

Der Kongress gilt als wichtiger Katalysator für die Gründung weiterer Arbeitsloseninitiativen in der gesamten Bundesrepublik, vor allem im Verlauf der 1980er Jahre. Mit ihnen entstehen wichtige Anlauf- und Beratungsstellen mit Selbsthilfeansatz für erwerbslose und von Armut betroffene Menschen.

Erste Arbeitsloseninitiativen entwickeln sich bereits im Verlauf der 1970er Jahre. 1980 berichtet der Paritätische über die bereits 1976 gegründete Aktionsgemeinschaft arbeitsloser Bürger e. V. (AGAB).

Viele der Vereine, die in diesem Kontext ihre Arbeit aufnehmen, werden später Mitglied im Paritätischen. So zum Beispiel die Arbeitsloseninitiative im Lahn-Dill-Kreis in Hessen. Seit der Gründung 1989 in Wetzlar hat sich der Verein zu einem soziokulturellen Zentrum mit einer Vielzahl von Projekten und einem breiten sozialpolitischen und zivilgesellschaftlichen Engagement entwickelt.

Dieter Sengling: Vorsitzender ab 1987

Der ehemalige Paritätische Bundesvorsitzende Prof. Dr. Dieter Sengling hat das heutige sozialpolitische Profil des Verbandes deutlich mitgeprägt. Vier ehemalige Student*innen von Prof. Dr. Sengling erinnern sich an ihn in der Jubiläumsausgabe unseres Verbandsmagazins.

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Foto von Dieter Sengling an einem Mikrofon stehend, im Hintergrund ist das frühere Logo des Paritätischen Gesamtverbandes zu sehen.